NZZ: Ja, er war eben recht belebt, mehr als am Wochenende.
Chipperfield:Â WĂŒrden Sie dort einkaufen?
NZZ: Warum nicht? Es gibt alles, was man braucht: Fisch, Fleisch, KĂ€se, GemĂŒse, eine BĂ€ckerei. Aber man muss sich diese Preise leisten können.
Chipperfield: Ja, er ist vielleicht zu teuer . . .
NZZ: Wann waren Sie das letzte Mal auf dem GelÀnde?
Chipperfield: Vor einer Woche. Es war noch nicht viel los, auch nicht auf dem Markt. Der hatte noch nicht geöffnet. Aber es ist immer so: Sie bauen ein GebÀude, die Hardware, und dann warten Sie auf die Software. Das hier ist ein stÀdtisches Projekt, die Architektur soll zu urbanem Leben werden. Das braucht Zeit.
NZZ:Â Warum sind Sie zuversichtlich, dass es hier klappt?
Chipperfield: Es ist bei normalen Projekten sehr schwierig, AktivitĂ€t zu stimulieren. Aber hier hat die Stadt zu den Investoren gesagt: «Wenn ihr das Projekt machen wollt, dann mĂŒsst ihr unsere Vorgaben erfĂŒllen.» Wenn man das demfreien Markt ĂŒberlassen hĂ€tte, hĂ€tten Investoren vielleicht gesagt: «Ja, wir könnten da vielleicht BĂŒros machen und ein paar LĂ€den im Erdgeschoss . . .» Das Ăbliche eben.
NZZ:Â Sie sagen also, es braucht den Druck der Politik, um ein Projekt mit solchen AnsprĂŒchen umzusetzen.
Chipperfield: Absolut. Investoren sind sehr konservativ, sie wollen keine Risiken eingehen. Sie bauen ein BĂŒrogebĂ€ude â weil man den BĂŒromarkt kennt. Sie bauen Wohnraum, auch das ist berechenbar. Aber wenn Sie ein Hotel, eine Jugendherberge, eine Kita und einen Markt in einen Komplex packen wollen â das wĂŒrde kein Investor wagen. Der freie Markt kann nicht liefern, was wir zur BewĂ€ltigung von umwelt- oder sozialpolitischen Krisen brauchen.
NZZ: Nachdem Sie den Wettbewerb gewonnen hatten, kaufte der Investor der Stadt das GebÀude ab, es wurde also faktisch privat. Wurden Sie in der Umsetzung kontrolliert?
Chipperfield: Ja, und die Kontrolle war von Anfang an streng. Wenn Sie so wollen: Das hĂ€rteste am Projekt war der Wettbewerb. Normalerweise sind die Zeichnungen ziemlich schematisch und die Kostenangaben eher vage. SolcheUngenauigkeiten geben dem Investor Spielraum. Er kann zum Beispiel wĂ€hrend der Bauphase entscheiden, Abstriche in der QualitĂ€t zu machen â oder die versprochene Kita doch nicht zu realisieren. In London habe ichdas oft erlebt. Dann empören sich zwar alle, aber die Investoren kommendavon. Hier in Paris gab es keine AusflĂŒchte, es musste alles sehr prĂ€zis sein, damit der Investor sein Risiko kontrollieren konnte.
NZZ: Regulierung und ĂŒbermĂ€ssige bĂŒrokratische AnsprĂŒche können aber auch sehr lĂ€hmend sein.
Chipperfield: Ja, aber wir mĂŒssen mit der Idee brechen, dass der Markt Wohlstand generiert und die öffentliche Hand Wohlstand vernichtet. Das ist Unsinn.
Das Problem ist: Wir messen den Einfluss der öffentlichen Hand nicht. Nehmen wir das Beispiel eines Autoherstellers. Die Strasse, auf der das Auto fahren kann, ist einfach da, in der Regel vom Staat gebaut und unterhalten. Der Erfolg der Autohersteller wird durch diese Grunddienstleistung der öffentlichen Hand erst ermöglicht. Wir mĂŒssen unsere Haltung gegenĂŒber dem Ă€ndern, was der Staat tun kann und soll undwas der private Sektor leistet. Dies erklĂ€rt ĂŒbrigens auch, warum ich dieses Projekt hier so interessant finde.
NZZ: Der Anspruch des Pariser Projekts geht allerdings weiter. Es will möglichst viele unterschiedliche Menschen auf relativ kleinem Raum zusammenbringen. Ist das nicht eine Utopie?
Chipperfield: Was meinen Sie genau? Dass arme Leute neben wohlhabenden wohnen?
NZZ: Zum Beispiel.
Chipperfield: Wir sind hier in der Stadt, das ist normal! Aber ja, in London wĂ€re das eine grosse Diskussion unter Investoren. Reiche Leute wollen nicht, dassarme Leute die gleiche HaustĂŒr benutzen. Das stimmt vielleicht, aber ich finde das uninteressant. Wenn wir wirklich daran interessiert sind, die Situation armer Leute zu verbessern, muss man ihnen einen vernĂŒnftigen Ort zum Leben geben: eine gute Strasse, eine gute Wohnung. Das Konzept war nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark in der Politik verankert, aber es ging irgendwie verloren. Der Markt hat sich dorthin verlagert, wo man am meisten Geld macht: mit Luxuswohnungen. Mit Sozialwohnungen verdient man nichts. Also mĂŒssen Politiker sich darum kĂŒmmern und es attraktiv gestalten. Frankreich macht das im Vergleich zu Grossbritannien nicht schlecht.
NZZ: Die Bar im 15. Stock gehört zum FĂŒnf-Sterne-Hotel. Man kann das Publikum dort auch ĂŒber den Preis regulieren . . .
Chipperfield: Das wird womöglich passieren. Dennoch wĂ€re es toll, wenn es ein Ort bleiben könnte, der fĂŒr alle zugĂ€nglich ist.
NZZ:Â Was macht Sie zuversichtlich, dass das Konzept in seiner ursprĂŒnglichen Form ĂŒberlebt?
Chipperfield: Es kann sein, dass zum Beispiel die Leute vom Markt in zwei Jahren sagen: «Es war nett, aber wir verdienen leider kein Geld...» Ich denke, bei Entwicklungsprojekten kann man einzig versuchen, das Leben vor Ort zu stimulieren. Wenn eine Stadt ihre LebensqualitĂ€t erhalten will, muss die öffentliche Hand intervenieren und Land- und Mietpreise anpassen. Berlin versucht seit Jahren, diesen Kampf zu fĂŒhren â und ich denke, es ist der einzige Weg.
NZZ: Als Brite sagen Sie: Der Staat muss den BĂŒrger vor dem Markt schĂŒtzen.
Chipperfield: Ja. Aber es ist wie mit jeder Regulierung: Positive ist besser als negative. Sie können die Leute vom Parkieren abhalten, wenn Sie ParkplÀtze streichen. Aber vielleicht ist es besser, das Angebot des öffentlichen Verkehrs auszubauen. Wenn der Staat mehr Wohnangebote ermöglicht, kann man vielleicht Druck aus dem System nehmen. Ich glaube nicht, dass man Erfolg hat, wenn man den Leuten nur Dinge verbietet odererschwert. Aber bei Herausforderungen wie Stadtplanung oder Klimawandel geht es nicht ohne Zuckerbrot und Peitsche.
NZZ: Das Leben in der Stadt ist mit der Pandemie und den zunehmend heissen Sommertagen nicht attraktiver geworden. Ich kenne mehrere Leute, die Paris in den letzten zwei Jahren verlassen haben.
Chipperfield: Diese Geschichten hören wir ĂŒberall. Aber wir wissen nicht, wie anekdotisch sie sind. Ich wĂŒrde gerne Zahlen sehen. Wir alle haben Mittelklasse-Freunde mit gewissen Privilegien, die dann entscheiden, aufein Weingut oder eine HĂŒhnerfarm in SĂŒdfrankreich zu ziehen und ihr Ideal zu leben. FĂŒr normale Leute ist es nicht so einfach zu sagen: «Wirgehen jetzt.» Aber wenn wir fragen: Wird es eine Neubewertung des nichturbanen Raums geben? Dann wĂŒrde ich sagen: Ja.
NZZ: Nicht in Paris, aber in Berlin und auch in ZĂŒrich gab es zunĂ€chst viel Kritik an Ihren EntwĂŒrfen. Trifft Sie das persönlich?
Chipperfield: Gab es Kritik? (Lacht.) Ja, in Berlin gab es eine â ich wĂŒrde sagen â robuste Diskussion um den Wiederaufbau des Neuen Museums. Ich wurde sogar auf der Strasse beschimpft. Es ging dabei um viele grundsĂ€tzliche Bedenken, die ich irgendwie verstehen konnte. In ZĂŒrich fand ich es eigenartig. Die Kritik war irgendwie nicht sehr klar. Ich hatte das GefĂŒhl, die Leute beklagten sich aus Prinzip. ZĂŒrich ist eine recht konservative Stadt.